archivierte Ausgabe 10-12/2022 |
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Traditionen als Trend? |
Csilla Schell referiert bei Kulturtagen des hessischen Bundes der Vertriebenen |
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Teilnehmer der BdV-Kulturtagung 2022 in Wiesbaden (v.l.n.r.): Jolanta Lemm, Agnes Maria Brügging-Lazar, Carlos Mühlhaus, Thomas Perle, Csilla Schill, Siegbert Ortmann, Dr. Elsbeth Wallnöfer, Rose-Lore Scholz und Andreas Hofmeister
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Bei der diesjährigen Kulturtagung des BdV-Landesverbandes Hessen vom 15. bis 17. Juli im Wilhelm-Kempf-Haus in Wiesbaden-Naurod drehte sich thematisch alles um Traditionen und Bräuche der Deutschen aus dem östlichen Europa und den ehemaligen Staaten der Sowjetunion. »Sind Traditionen nachhaltig oder nur ein Trend?« Findet bei einer jungen Generation durch Traditionen eine tiefergehende Beschäftigung mit Heimat, Identität und (Familien-)Geschichte statt? Oder stehen Kommerz und Kitsch im Gewand von Tracht und Folklore-Events im Vordergrund? Können Traditionen überhaupt zeitgemäß weiterleben oder stehen sie Innovation im Wege? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der dreitägigen Veranstaltung mit Medienwerkstatt. Zwei Impulsvorträge sowie eine Autorenlesung führten wissenschaftlich und literarisch in die angebotenen Workshops ein, in denen sich die Teilnehmer aller Altersklassen generationenübergreifend mit dem eigenen Traditionsverständnis und dem anderer kreativ auseinandersetzen konnten.
Nach der Eröffnung und Begrüßung der Teilnehmer und Gäste – darunter der hessische BdV-Landesvorsitzende Siegbert Ortmann –, durch die BdV-Landeskulturbeauftrage Rose-Lore Scholz, sprach der Landtagsabgeordnete und Vorsitzende des Unterausschusses im Hessischen Landtag für Heimatvertriebene, Aussiedler, Flüchtlinge und Wiedergutmachung (UHW), Andreas Hofmeister, ein Grußwort. Er sei dankbar, dass der BdV nach einer coronabedingten Pause seine Kulturtage wieder aufleben lasse. Gerade die Kulturarbeit des BdV sei kostbar, da Zukunft immer auch Herkunft brauche.
Agnes Maria Brügging-Lazar, Kulturreferentin in der BdV-Landesgeschäftsstelle, stellte die Arbeit des BdV-Kulturreferates vor, die europäisch und generationenübergreifend ausgerichtet sei. In ihrer Präsentation wurde die große Veranstaltungsvielfalt sichtbar, die von Ausstellungen, Vorträgen und Tagungen bis hin zur Inventarisierung von Heimatsammlungen reicht. Zu den umfangreichen digitalen Projekten gehört insbesondere der YouTube-Kanal des BdV-Landesverbandes CULTURE TO GO mit derzeit 80 Beiträgen.
Ergänzend hierzu gab Carlos Mühlhaus einen Einblick in die Arbeit der Podcast-Redaktion. Beim Interview-Podcast CULTURE TO GO zur europäischen Zeitgeschichte geht es um Flucht, Vertreibung und Aussiedlung, aber auch um das deutsche Kulturerbe im östlichen Europa. Im Mittelpunkt stehen dabei Gespräche mit Zeitzeugen, deren Enkel oder mit Experten auf dem Gebiet (Seite 2 von 3).
In wissenschaftlichen Vorträgen am Freitagnachmittag erhielten die Teilnehmer Impulse für die Arbeit in den Workshops am nächsten Tag. Die in Budapest geborene Ungarndeutsche Csilla Schill, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde der Deutschen im östlichen Europa (Freiburg), gab in ihrem Vortrag zum Thema »Zwischen Traditionspflege und Ethno-Business. Feste und Bräuche seit der Wende in Ungarn« einen Überblick über die Pflege und Wiederbelebung deutscher Traditionen in Ungarn. Feste, Bräuche und Traditionen seien wichtige Marker für die Aktivität und Vitalität einer ethnisch organisierten Minderheitengruppe, so Schill. Dies gelte auch in Siedlungsgebieten der Nachfahren deutscher Einwanderer, wo man in Dörfern mit größerem deutschem Bewohneranteil die eigene donauschwäbische Kultur heute wiederendecke und sich verstärkt darauf rückbesinne und zu »revitalisieren« versuche. Im anschließenden Vortrag »Tradition, Ritual und Politik, eine besondere Beziehung in besonderen Situationen« sprach die gebürtige Südtirolerin und in Wien lehrende Ethnologin und Expertin für die Themen Heimat, Brauchtum und Tracht, Dr. Elsbeth Wallnöfer, über die Instrumentalisierung von Brauchtum für politische Zwecke am aktuellen Beispiel der Wyschywanka, einem traditionellen, mit Stickereien versehenen Kleidungsstück, das vor allem in der Ukraine getragen wird. So werde inzwischen in der Ukraine am dritten Donnerstag im Mai der Wyschywanka-Tag gefeiert. Der Abend endete mit der Lesung des rumäniendeutschen Autors und Dramatikers Thomas Perle aus seinem 2018 erschienenen Buch »wir gingen weil alle gingen«.
Am Samstag konnten die Teilnehmer die Vortragsimpulse in Workshops umsetzen. Die Ergebnisse wurden dann am Sonntagvormittag präsentiert. Die Theaterwerkstatt »Zwischen Generationen und Traditionen. Theaterspiel als Brücke« wurde geleitet von der hessischen BdV-Jugendreferentin, Autorin und Kulturschaffenden mit russlanddeutschen und finnischen Wurzeln Katharina Martin-Virolainen. »Das Theaterspiel hat sich bewährt, Kapitel der Geschichte und menschliche Schicksale zu erzählen«, so Martin-Virolainen. In ihrem Workshop ging es darum, wie sich persönliche Schicksale von Flucht und Vertreibung deutscher Minderheiten aus dem östlichen Europa szenisch umsetzen lassen. Zur Kulturtagung und ihrem Theaterworkshop sagt Martin-Virolainen: »Der BdV-Hessen bietet immer wieder eine gute Plattform, auf der sich Menschen und Institutionen miteinander austauschen und vernetzen können. Dadurch wird bedeutend zu der Entwicklung und Professionalisierung der Kultur- und Erinnerungsarbeit beigetragen. Bei dem Theaterworkshop, den ich leiten durfte, konnte ich nicht nur mein Wissen mit anderen teilen, sondern habe durch den Austausch – aber auch durch das gesamte Programm der Tagung – viele Impulse und Ideen für mich und meine Arbeit mitgenommen.«
Der zweite Workshop »Tradition hinterfragen – Tradition neu schreiben« war als Schreibwerkstatt konzipiert und wurde von Thomas Perle geleitet. Ausgehend vom Weihnachtsfest tauschten sich die Teilnehmer in Gesprächsgruppen über Traditionen und Bräuche aus. Die eigenen familiären Erfahrungen mit Bräuchen und Festen dienten schließlich für eine Verschriftlichung einer ganz eigenen Geschichte. Workshopleiter Thomas Perle zog zum Abschluss ein positives Fazit der Tagung: »Gute Verpflegung in der Idylle inmitten des Waldes. Großes Lob an die Organisatorinnen, die das Wochenende zu einem einmaligen Gesamterlebnis werden ließen. Lehrreiche Vorträge und Wissensvermittlung von interessanten Referentinnen sowie vielfältige Workshopteilnehmende mit vielschichtigen Hintergründen. Danke für die erneute Einladung zu einer Tagung des BdV-Landesverbandes Hessen! Jedes Mal gehe ich mit neuem Wissen und inspirierendem Austausch im Gepäck.« (Seite 3 von 3)
Carlos Mühlhaus (26), Student der Politikwissenschaften an der Goethe Universität und ehrenamtlicher Podcast-Redakteur beim BdV Hessen, fasst seine Eindrücke wie folgt zusammen: »Die Tagung des BdV-Landesverbandes Hessen in Wiesbaden-Naurod hat mir großen Spaß bereitet. Durch Vorträge aus der Wissenschaft und später in den Workshops, lernte ich viel Neues über Bräuche, Trachten und Tradition. Die Schreibwerkstatt von Autor Thomas Perle kann ich jedem empfehlen, der meint, er habe kein Talent für das literarische Schreiben. Es war toll, sich einmal intensiv mit Schreibprozessen auseinanderzusetzen. Die Atmosphäre während der gesamten Tagung war ausgezeichnet und ich freue mich schon auf ein baldiges Wiedersehen.«
Auch Nils Schöffler, Vorstandsmitglied der Deutschen Banater Jugend und Trachtengruppen (DBJT), lobte die diesjährige Kulturtagung: »Das BdV-Tagungswochenende war wieder einmal ein voller Erfolg. Bei Gesprächen und Diskussionen über Kultur, Tradition, Erinnerungen und Geschichte konnten sich die Teilnehmenden frei entfalten und einbringen. Als Abwechslung zu den interessanten Workshops diente das spätabendliche Kegelturnier. Vielen Dank und auf bald.«
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